Samstag, 18. Oktober 2008

Angelino - Tagebuch eines kleinen Schutzengels

1. Tag – Angelino lernt Peter kennen

„Verdammt!“
Mit unruhiger Zunge, das Kinn fest auf das Knie des rechten Beines gespresst, mühte Peter sich mit dem abgerissenen Schnürsenkel seines Halbschuhs ab.
Der Tag fing gut an.
Ausgerechnet am letzten Schultag in der Woche, wo er sich mit Rolf, Christian und den anderen verabredete hatte und schon recht spät dran war, musste ihm so etwas passieren. Mit einem kurzen abschätzenden Blick sah er zu seiner Großmutter hinüber, die gerade sein Schulfrühstück einpackte. Oma konnte sehr pingelig sein, was sein Äußeres und seine Kleidung betrafen.
„Es wird Zeit, Peter“, mahnte sie ihn und sah zur Küchenuhr. „Ist schon Viertel nach Sieben.“
„Ja, ja, ich weiß, Oma!“, maulte Peter und richtete sich auf, nachdem er den Schnürsenkel mit einem doppelten Knoten gesichert hatte. „Ich geh ja schon!“
Mit mürrischem Gesichtsausruck schulterte er seinen Rücksack, den er sich zum Geburtstag gewünscht hatte, da in der Klasse alle einen besaßen, selbst der Sohn vom pingeligen Deutschlehrer Printel.
„Tschüs, Oma! Nach der Schule geh ich noch mit zu Rolf.“
„Und das Mittagessen?“, warf die Oma besorgt ein. „Du musst doch etwas essen?“
Peter wusste, dass seine Großmutter immer besorgt, er würde irgendwann einmal verhungern, wenn er auch nur eine Mahlzeit am Tag ausfallen ließ.
„Rolfs Mama macht uns bestimmt wieder eine Pizza“, erklärte Peter und hoffte, dass Oma damit zufrieden war.
Ein tückischer, kalter Windstoß brauste Peter entgegen, als er die schwere Haustür aufzog und in Richtung Schule loszottelte. Er rang nach Luft und zog den Reißverschluss des Anoraks hoch bis zum Hals. Heute war zwar erst der 20. September, aber in den letzten Tagen hatte sich die Sonne immer weniger sehen lassen.
Auf der großen Kirchturmuhr der Martinskirche schob sich der große Zeiger auf die Sechs. Halb acht! Er musste sich beeilen, sonst kam er zu spät zum Treff. Und um acht Uhr ging der Unterricht los.
Der kalte Wind zwang Peter, den Kopf zu senken und den ihm entgegenwirbelnden Herbstblättern auszuweichen.
Rumms! Fluchend rieb er sich den Kopf. Vor lauter Wind und Blättern und Eile hatte er den Trafokasten gar nicht bemerkt und war voll draufgerumpelt. Das tat verflixt weh. Und schon überlegte Peter, wie er den pochenden Schmerz als Ausrede für einen krankheitsbedingten schulfreien Freitag ummünzen konnte. Doch während er probeweise die verschiedensten Grimassen schnitt, die selbst ein Verkehrsschild zum Weinen gebracht hätten, ließ der Schmerz nach und war auch gleich verschwunden.
Peter dachte nicht weiter darüber nach, stapfte weiter und bemühte sich, im wahrsten Sinne des Wortes dem böigen Wind die Stirn zu bieten.
An der Kreuzung am Stadtplatz zeigte die Ampel Rot. Peter sah sich nach links, dann nach rechts um und als er niemanden sah und der Meinung war, auch nicht beobachtet zu werden, schickte er sich an, über den Zebrastreifen zu rennen.
Da geschah es! Er wollte gerade den Fuß auf die Straße setzen und die 100-Meter-Lauf-bei-Rot-Haltung annehmen, da zerriss es den mühsam geknoteten Schnürsenkel.
Der Fluch, der Peter entfuhr, stieg nicht ungehört in den bleigrauen Septemberhimmel hoch. Er wurde gehört, registriert und geprüft.
Was Peter nicht sah, war – Angelino, sein kleiner Schutzengel auf Zeit. Aber das wusste er da noch nicht.
Und was Peter sowieso nicht wusste und erst recht nicht sehen konnte, war der mit erhöhter Geschwindigkeit dahinrasende Motorradfahrer, der mit röhrendem Auspuff in Armweite von Peter entfernt über den glitschigen Zebrastreifen raste.
Peter brauchte einige Zeit, bis er begriff, dass er direkt in das Motorrad hinein gelaufen wäre, wenn ihm nicht der Schnürsenkel gerissen wäre.
Angelo atmete auf, war er doch noch gerade zur rechten Zeit gekommen, obwohl er sich vor Peters Wohnung länger als geplant aufgehalten hatte, um sich das Haus und die nähere Umgebung einzuprägen. Je mehr Informationen er hatte und je besser er sein Arbeitsfeld kannte, desto besser konnte er Peter beistehen und ihn vor Schaden bewahren.
Etwas verlegen musterte Angelino seinem neuen Schützling mit ernsten Blicken.
Vor sich sah er einen knienden und laut schimpfenden Jungen, der wütend einige Worte ausstieß, die Angelino nur zum Teil verständlich waren. Und diejenigen, die er kannte und deren Bedeutung er verstand, gefielen ihm nicht sonderlich.
Peter war für seine neun Jahre recht groß, maß ungefähr einen Meter vierzig, wirkte auf den ersten Blick ziemlich schlank, fast dünn, als bekäme er nicht genug zu essen. Seine blonden Haare reichten ihm über die Ohren und lagen auf dem hochgestellten Kragen seines blauen Anoraks etwas auf.
Es war ihm gelungen, den Schnürsenkel noch einmal zu verknoten. Am Nachmittag würde er sich zu Hause wohl einen anderen einfädeln müssen.
Bevor Peter weiterging, sah er sich auf einmal erstaunt um, als habe er einen ihm bekannten Menschen entdeckt. Als er niemanden erblickte, schüttelte er leicht den Kopf und stiefelte weiter.
Angelino schwebte auf dem Schulweg neben Peter daher und prägte sich den Weg, die Straßen, die Geschäfte, Buden und alle markanten Punkte tief ein, damit er sich beim nächsten Mal ohne langes Suchen wieder zurechtfand.
Der klotzige, schmutzigraue Bau mit den mannshohen Fenstern ohne Vorhänge musste Peters Schule sein. In diesen unübersehbaren Klotz wäre Angelino auch nicht gern gegangen, aber das vom Schulhof herschallende laute Lachen und Gekreische ließ erkennen, dass das hässliche Schulgebäude den Schülern gleichgültig war. Vielleicht gab es in der Schule auch viele gute Lehrer, dass die Jungen und Mädchen den hässlichen Bau gar nicht mehr wahrnahmen.
Als Peter mit anderen sich schubsenden, stoßenden, streitenden und lärmenden Schülern durch das offene Portal ging. Angelino atmete erleichtert auf. Jetzt waren ihm einige Stunden Ruhe oder Muße vergönnt. Peter war in Sicherheit und hatte jetzt weder Zeit noch Gelegenheit, irgendetwas anzustellen oder sich in Gefahr zu begeben.
Ins Klassenzimmer hatte Angelino ihm nicht folgen wollen. Peter sollte sich nicht bedrängt oder beobachtet fühlen. Sein Engelführer Gabriel hatte ihn auch davon unterrichtet, dass die Menschen manchmal ein ganz feines Gespür dafür hätten, ob sie beobachtet oder verfolgt wurden. Gabriel nannte das den „6. Sinn“, eine Gabe aus alten Zeiten, als die Menschen mehr in und mit der Natur lebten und die Technik und die Maschinen nur eine geringe oder gar keine Rolle spielten.
Angelino fühlte sich müde, erinnerte sich aber gleich daran, dass ein Engel niemals müde wurde. Zugegeben, noch war er kein richtiger Engel, aber er würde es werden, wenn die 1000 Jahre des Lernens vorbei waren. Und 1000 Jahre waren im Himmel ein Klacks! Tausend Jahre im Himmel konnten auch nicht mit 1000 Lebensjahren auf der Erde oder auf anderen Planeten verglichen werden. Im Himmel – das war eine Bezeichnung der Menschen für die ihnen unverständliche Ewigkeit – gab es im Grunde genommen keine Zeit. Zeit war ein Verhalten in einem bestimmten Dasein, war etwas für Menschen oder andere Lebewesen, ein Maß, innerhalb dessen ein Leben entstand und wieder verging. Ein körperliches Leben.
Angelino summte der Kopf. Manchmal kamen ihm Gedanken, von denen er nicht wusste, woher sie stammten. Er besaß doch keinen Kopf, aber so etwas Ähnliches, durch das er mit den anderen Engeln und seinen Engelführern immer verbunden war. Manchmal war das Engelleben auch nicht sehr einfach …
Mit „geschlossenen Augen“ nahm Angelino „Kontakt“ mit seinem Engelführer Gabriel auf und teilte ihm mit, was bisher geschehen war …

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Zuletzt aktualisiert: 18. Okt, 13:40

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